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Flüchtlingscamp

Starkes Netzwerk für missbrauchte Frauen im Nordirak

Stuttgart / Lesedauer: 7 min

Um Menschen beim Verarbeiten ihrer Erlebnisse zu helfen, beginnen vier Therapeuten ihre Arbeit in nordirakischen Flüchtlingscamps. Die Leser der „Schwäbischen Zeitung“ haben diese Hilfe mit ihren S...
Veröffentlicht:23.03.2018, 19:51

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Acht Jahre ist das kleine Mädchen alt, das in einem Flüchtlingscamp im Nordirak lebt. Mit vier, fünf Jahren hat das Kind Schreckliches gesehen: Damals überfielen die Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) das Dorf, in dem die Kleine mit ihrer Familie lebte. Frauen wurden vergewaltigt und verschleppt, Kinder wurden gezwungen, als Kindersoldaten andere Menschen zu töten. Die meisten Männer wurden ermordet. Seither spricht das Mädchen nur über eine Mickeymouse-Puppe mit ihren Eltern. „Die erste Diagnose lautete auf Schizophrenie“, berichtet der Psychologe und Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan, „aber das war nicht richtig.“ Noch viele Jahre wäre das Mädchen mit unabsehbaren Schäden für seine Gesundheit falsch therapiert worden, wäre die richtige Diagnose nicht im Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie (IPP) in Dohuk gestellt worden.

„Es gibt Erfahrungen von menschlichem Leid, die man nicht ohne Hilfe verarbeiten kann“, sagt die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer . Um die traumatisierten Opfer von Krieg und Gewalt zu unterstützen, habe das Land deshalb unter Federführung des Wissenschaftsministeriums gemeinsam mit der Universität Dohuk das Institut im Nordirak aufgebaut.

Dort werden seit einem Jahr in einem Masterstudiengang Psychotherapeuten nach deutschen Standards ausgebildet. Baden-Württemberg finanziert das Projekt und engagiert sich mit einer Million Euro. Die ersten vier Therapeuten beginnen dieser Tage ihr praktisches Engagement und nehmen sich gerade der traumatisierten Kinder und der missbrauchten Frauen in den Flüchtlingscamps an – finanziert durch die Weihnachtsspendenaktion der „ Schwäbischen Zeitung “. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) begrüßte das Quartett jetzt in Stuttgart.

Um zu verstehen, wie die vier Therapeuten – Ahlam Farhan Younis, Ziyad Ahmad Bashir, Nazar Kashan und Hamid Musa Hama – das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und die „Schwäbische Zeitung“ zusammenfanden, ist ein Blick auf ein Netzwerk nötig. An dessen Anfang stand seit Ende 2015 die Partnerschaft (siehe Kasten: „Verlässliche Partner“) zwischen Baden-Württemberg und der nordirakischen Region Dohuk.

Oben genannter Jan Ilhan Kizilhan, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Villingen-Schwenningen, selbst Kurde und seit Jahren als Netzwerk-Gründungsmitglied im Nordirak engagiert, wusste aus eigener Erfahrung als Therapeut seit langer Zeit um die seelische Not der Betroffenen und erkannte die Chance: Er schlug vor, an der Universität in Dohuk ein Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie zu errichten. Mit Erfolg: Der nächste Jahrgang wird in diesen Tagen seine Ausbildung beginnen. Das Traumazentrum soll langfristig in die Verantwortung der dortigen Universität übergehen.

Doch dann stellte sich die Frage: Wer kann die Therapeuten bezahlen? Wer kann ihren Einsatz in den Camps finanzieren? Wie können sie praktische Erfahrungen sammeln? Die kurdische Autonomiebehörde ist nicht in der Lage, diese Aufgabe zu stemmen: Sie ist bereits mit der Versorgung der 2,3 Millionen Flüchtlinge stark gefordert. Als neuer Partner im Netzwerk bot sich die „Schwäbische Zeitung“ an. Chefredakteur Hendrik Groth berichtet: „Als wir davon hörten, dass im Nordirak Therapeuten ausgebildet werden, diese auch dringend gebraucht, aber nicht bezahlt werden können, war uns sofort klar: Wir helfen!“ Auch die Caritas, seit 2013 starker Partner der Weihnachtsaktion, stimmte zu.

Unterstützung für Tausende

Aus den Spenden der Weihnachtsaktion 2016 waren im Camp Mam Rashan, in dem 10 000 meist jesidische Flüchtlinge leben, Wohncontainer, Ladenlokale, ein Jugendzentrum und ein Fußballplatz gebaut worden. Groth erzählt: „Und als auf dem Wunschzettel für dieses Jahr Therapiemöglichkeiten genannt wurden, stand fest: Das können wir finanzieren.“ Der Kontakt zu Professor Kizilhan und mit dem IPP in Dohuk war schnell geknüpft. Und wenig später stand fest, dass mit Ahlam Farhan Younis, Ziyad Ahmad Bashir, Nazar Kashan und Hamid Musa Hama vier erfahrene Kräfte die Therapien aufnehmen werden.

Aus der Politik kommt Anerkennung: „Die Landesregierung unterstützt das Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Dohuk gerne und begrüßt es, dass jetzt Studierende dieses Instituts konkrete Unterstützung in den Flüchtlingscamps leisten“, sagte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne), als sich das Therapeutenquartett jetzt in Stuttgart vorstellte. Und Bauer wandte sich an den „Motor“ des Projektes: „Ich danke Professor Kizilhan, der mit dem Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie Pionierarbeit leistet. Er arbeitet in dem Kontext, dass Gesundheit sehr weit gedacht werden muss.“

Bauer betonte, ohne die Spenden der Leser der „Schwäbischen Zeitung“ sei die Therapiearbeit in den Flüchtlingslagern nicht denkbar: „Die Bereitschaft der ,Schwäbischen Zeitung‘, sich zu engagieren und mit den Beiträgen im Blatt sehr komplexe Probleme abzubilden, damit Emotionen und Empathie hervorzurufen, ist bemerkenswert und vorbildlich.“ Die Leistungen der Journalisten, im Nordirak zu recherchieren, die Geschichten der misshandelten Frauen und Mädchen oder der zu Kindersoldaten gezwungenen Buben zu erzählen, erfordere eine Haltung, die nicht selbstverständlich sei: „Wir brauchen diesen Qualitätsjournalismus, der beispielgebend in unserer selbstbewussten Gesellschaft ist.“

Die Unterstützung für das Therapiezentrum im Nordirak kommt nach Ansicht von Bauer aber auch der Behandlung von Traumatisierten in Deutschland zugute. „Durch die Arbeit von baden-württembergischen Therapeutinnen und Therapeuten bei der Ausbildung in Dohuk werden auch wir bei den Integrationsbemühungen hier profitieren. Menschen, die in Baden-Württemberg mit Geflüchteten arbeiten, brauchen eine erweiterte Perspektive und Kenntnisse von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Daher setzt dieses Projekt auch auf Langfristigkeit und auf Augenhöhe. Am Ende werden alle Beteiligten durch den gegenseitigen Austausch und dem Mehr-voneinander-wissen profitieren. Wir haben sehr bewusst dieses Vorhaben nicht als Einbahnstraße angelegt“, erläuterte die Ministerin: Beide Seiten könnten voneinander lernen.

Wunden eines verfolgten Volkes

Auch öffne das Projekt den Blick auf Phänomene, die in der westlichen Kultur nicht so augenscheinlich, aber dennoch von Bedeutung seien.

Der Mitgründer des Zentrums, Jan IIhan Kizilhan, nannte als Beispiel von Generation zu Generation weitergegebene Verletzungen. Bei der religiösen Minderheit der Jesiden seien das 74 Genozide in 800 Jahren. Aufgrund dieser Geschichte habe sich ihr Verhalten gegenüber Fremden verändert. Solche historischen Dimensionen müssten auch bei der Behandlung von Migranten in Deutschland berücksichtigt werden.

Kizilhan appelliert mit Blick auf 1900 schwer traumatisierte Mädchen und Frauen in den Camps an andere Bundesländer und Nationen, sich dieser anzunehmen. „Sie halten es in den Zelten kaum aus und drohen, ohne Behandlungsmöglichkeit chronisch krank zu werden.“ Insbesondere diejenigen, die mehr als zwei Jahre in Händen der Terrormiliz waren, bedürften der Therapie. Nach Kizilhans Auskunft werden noch 3000 Frauen und Mädchen vermisst, die vom IS verschleppt wurden.

Die Einschätzung des Therapeuten bestätigt Pramila Patten, Uno-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt bei Konflikten: Sie habe ein „schreckliches Fehlen“ von Unterstützung für die Opfer beobachtet, berichtete sie nach einer mehrtägigen Reise in den Irak. Überlebende, die sie getroffen hatte, seien ihr wie „lebende Tote“ vorgekommen. Die Frauen würden zudem in doppelter Hinsicht stigmatisiert: weil sie Opfer sexueller Gewalt sind und die Taten im Zusammenhang mit dem IS stehen.

Für die „Schwäbische Zeitung“ steht fest, dass auf dem Hintergrund dieser Not das Engagement nicht enden wird: „2018 werden wir wieder Spenden sammeln“, kündigte Chefredakteur Groth an, „die Arbeit muss weitergehen und ich bitte unsere Leser jetzt schon, uns zu unterstützen.“ Und Groth hatte eine weitere gute Nachricht: „Die Weihnachtsaktion 2017 ist so gut gelaufen, dass wir bereits jetzt einen fünften Therapeuten einstellen können – damit Mädchen, wie jener Achtjährigen, die nur per Mickeymouse-Puppe kommuniziert, schnell und professionell geholfen werden kann.“